BAHNWÄRTER THIEL

Novellistische Studie (1887)

I. Bahnwärter Thiel, ein frommer, gewissenhafter, wortkarger und kräftiger Mann, der zuverlässig und fast ohne Unterbrechungen seit zehn Jahren seinen Dienst verichtet, heiratet ein jahr nach dem Tode seiner jungen, zarten Frau eine derbe und kräftige Kuhmagd. Seine erste Frau war im Kindbett gestorben, der Sohn Tobias lebte und entwickelte sich kümmerlich, und als die neue Frau ihrerseits einen kräftigen und gesunden Sohn gebar, wird Tobias zunehmend von ihr geplagt und vernachlässigt. Thiel, den eine tiefe Verehrung an seine verstorbene Frau bindet, verfällt zugleich der triebhaften Kraft seiner neuen Frau und wird mehr und mehr von ihr abhängig.

II. An einem Junimorgen gegen 7 kommt Thiel aus dem Dienst und entdeckt an seinem Sohn Tobias die Spuren einer Züchtigung. Er sagt nichts. Den Nachmittag verbringt er - wie meistens - mit Tobias im Freien, gibt sich mit der Dorfjugend ab, am liebevollsten aber mit seinem Sohn. Am Abend, schon auf halbem Wege zur Bahnerhütte, bemerkt er, daß er sein Brot vergessen hat, kehrt um und wird Zeuge der Mißhandlung seines Sohnes durch die Frau. Er ist tief verstört, aber nicht in der Lage, das in ihm Aufsteigende ("Furchtbare"18) herauszulassen, die körperliche Ausstrahlung seiner Frau, ihre ihm "unbezwingbar, untentrinnbar" erscheinende Kraft läßt ihn stumm und ohnmächtig werden.

III. In seiner Wärterbude in der nächtlichen Waldeinsamkeit - an welcher nur hin und wieder das "schwarze, schnaubende Ungetüm"(22) vorbeirast - versucht er das Geschehene zu verarbeiten.
Er verbringt eine unruhige Nacht in dieser, ganz dem Andenken seiner ersten Frau geweihten Hütte. Draußen tobt ein Gewitter, und aus seinem Inneren steigen Bilder vom gemarterten Tobias, von seiner toten Frau, die sich von ihm abwendet und etwas "Schlaffes, Blutiges, Bleiches"(27) davontrug. Seine Seele ist voller Scham über die schmachvolle Duldung seines jetzigen Lebens. Er kann das Ende seines Dienstes kaum erwarten, zuhause aber sind die quälenden Bilder beim Anblick seines rotwangigen Sohnes wieder verschwunden (30). Dies war ein Sonntag und in der nächsten Woche hatte Thiel wieder Tagdienst. Beim Bahnwärterhäuschen war ihm ein neues Stück Acker überlassen worden, und seine Frau beschließt, ihn am folgenden Tag umzugraben und Kartoffeln zu setzen. Ihm ist das Eindringen seiner Frau in seinen ureigenen Bereich sehr unrecht, aber er kann auch wieder nichts Rechtes einwenden, und zusammen geht die Familie los. Das Wetter ist schön, die Frau ist zufrieden und friedlich und vor allem Tobias hat viel Freude vor allem an den vorüberbrausenden Zügen.
Am Nachmittg tritt Thiel seinen Dienst an, während Lene die Kartoffeln setzt. Der "schlesische Zug" kommt pünktlich, gibt aber plötzlich Notsignale und bremst: Tobias ist unter seine Räder gekommen und wird zwar noch atmend, aber mit völlig zerbrochenen Gliedern auf eine Bahre gelegt. Thiel ist vor Entsetzen ganz stumpfsinnig, Lene jammert in einem fort und der Knabe wird zur nächsten Station getragen. Wie betäubt geht Thiel zurück an seine Arbeit, er hat wieder Visionen, stolpert die Gleise entland und redet mit seiner unsichtbaren Frau, verspricht ihr, sich zu rächen, "...mit dem Beil"(42). Der zurückgebliebene Säugling meldet sich schreiend, in rasender Wut beginnt Thiel ihn zu würgen, aber die Signalglocke reißt ihn aus seiner Raserei. Ein Zug, der Arbeiter transportiert, hält an und in feierlicher Stille wird der tote Tobias ausgeladen, dahinter folgt die völlig verheulte Helene. Aber sie erschrickt auch über das verstörte Aussehen ihres Mannes, der auch gleich darauf bewusstlos zusammenbricht. Man trägt den Bewusstlosen mühsam ins Dorf und in seine Wohnung und Lene - nun "eine andere geworden"- umsorgt ihn aufopferungsvoll. (48) Am nächsten Morgen findet man die Frau mit dem Beil erschlagen und dem Säugling den Hals durchgeschnitten. Thiel wird erst am darauf folgenden Tage gefunden, auf den Gleisen sitzend, wo sein Sohn überfahren wurde. Mit Gewalt muss er vom Gleis wegbefördert werden. Er wird in eine Irrenanstalt gebracht und noch bei der Einlieferung hält er das Mützchen seines Sohnes in den Händen.

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